Tischlein deck dich
unterliegt dem Wandel

Jens Lönneker ist Diplom-Psychologe und Geschäftsführer von rheingold salon, einem tiefenpsychologisch ausgerichteten Institut mit dem Schwerpunkt Markt-, Medien- und Kulturforschung. Für die Heinz Lohmann Stiftung hat er gemeinsam mit Marco Diefenbach, Senior Projektleiter bei rheingold salon, die Studie „Essen in Deutschland: Wünsche und Wirklichkeit - Gestern. Heute. Morgen" durchgeführt.
Frage: Was sind die zentralen Botschaften Ihrer Studie für die Akteure der Lebensmittelkette?
Jens Lönneker: Die Studie zeigt, dass Essen nicht allein dazu dient, Hunger und Durst zu stillen oder physiologische Anforderungen zu erfüllen, sondern, dass Essen immer mit einem psychologischen Sinn verbunden ist. Dieser psychologische Sinn wird aus der Gesellschaft, aus der Kultur heraus, geformt. Wir einigen uns im Laufe der Zeit darauf, was wir im Essen und Trinken sehen wollen und daraus bilden sich Geschichten, narrative Bilder, die die Art und Weise, wie wir essen und trinken prägen. Die Studie für die Heinz-Lohmann-Stiftung hatte die Möglichkeit, diese Narrative herauszuarbeiten und über einen Bogen von fast vierzig Jahren zu betrachten und auch eigene Forschung zu betreiben. Es gibt zwei Unterstudien, einmal für die Gegenwart, einmal für die Zukunft, und diese Forschung ist statistisch repräsentativ.
Frage: Was sind diese Narrative?
Lönneker: Die Studie hat Narrative für die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg herausgearbeitet, und einen ganz wichtigen Punkt, dass wir heute am Übergang von zweiten zum dritten Narrativ stehen. Das erste Narrativ besagt, dass wir über lange Zeit gegessen haben, um Gemeinschaft und Familie herzustellen und deswegen auch alles diesem Ziel untergeordnet war. Wir mussten zu bestimmten Zeiten in der Familie physisch anwesend sein und wir mussten das essen, was auf den Tisch kam. Das war klassische deutsche Küche, und hatte das Ziel, diese Gemeinschaft, die Familie erfahrbar zu machen. Das war für den einen oder anderen mehr oder weniger freudvoll. Aber es war sehr wichtig nach den Zerrüttetheiten durch den Krieg und den Zersplitterungen von Familien. Viele Menschen waren gestorben und es war es ganz wichtig, überhaupt wieder so etwas wie Gemeinschaft zu haben.
Für die Boomer-Generation, zu der ich ja auch zähle, war das ganz schrecklich. Wir haben das eher als eine totale Einschränkung erlebt, Eingrenzung, miefig und spießig. Der mühsam aufgebaute Zusammenhalt wurde eher als Begrenzung erlebt und weniger als Errungenschaft. Das war der Ausgangspunkt für die Entwicklung des zweiten Narrativs, das jetzt nach persönlicher, individueller Freiheit strebte und das dazu geführt hat, dass wir auch beim Essen und Trinken einen sagenhaften Hedonismus und unglaubliche Vielfalt auch im Nahrungsangebot entwickelt haben. Wer in den sechziger, siebziger Jahren in Deutschland gelebt hat, hätte sich im Traum nicht vorstellen können, was für eine Vielfalt heute möglich ist von Junkfood bis zu Fine-dining. Die Leute damals, die kannten noch keine Auberginen oder Zucchini.
Frage: Aber immerhin schon Toast Hawaii, oder? Das war dann schon sehr exotisch.
Lönneker: Ja, das war advanced. Wenn man das heute sieht, ist das unfassbar. Zumindest im städtischen Umfeld müssen wir oft keine 100 Meter laufen, ohne dass uns irgendetwas an Essen angeboten wird. Und wir haben neben der deutschen Küche die Wahl zwischen Vietnamesisch, Thai, Sushi, französisch, italienisch, türkisch. Das Angebot ist von einer immensen Vielfalt geprägt. Das hat natürlich auch die Landwirtschaft und die Lebensmittelproduktion beeinflusst, weil sie plötzlich ganz andere Möglichkeiten hatten, ihr Angebot auszuweiten. Und es hat den Handel geprägt, der einen völlig neuen Umgang mit Frische etabliert hat. Supermärkte sind Paradiese geworden, wenn man so will. Das Märchen vom Tischlein deck dich hat sich da eigentlich erfüllt. Und das alles war auch in Deutschland lange Zeit im Vergleich zu den Nachbarländern auch noch unfassbar billig.
Frage: Die Zeiten sind allerdings ziemlich vorbei, wenn man Ihrer Studie folgt.
Lönneker: Ja, wir sind in eine Umbruchzeit übergegangen, in der wir damit konfrontiert sind, dass dieser Hedonismus, diese Vielfalt auch Kehrseiten hat. Die zeigen sich unter der Überschrift We
, also wir alle als Gemeinschaft, als Gesellschaft, haben das Problem, dass das hedonistische Angebot das Klima schädigt, dass wir Raubbau an unserer Erde betreiben und dass man nicht einfach so weitermachen kann. Ein zweiter Aspekt oder Komplex, den haben wir Me
genannt, betrifft uns selbst. Wir merken, dass es, wenn wir einfach weiter so hedonistisch leben auf die Gesundheit geht. Dann haben wir mit Kreislaufproblemen zu tun, mit der Herzgesundheit, dem Diabetes, Bluthochdruck. Damit steht man an der Kehrseite des Hedonismus-Ideals, an der Geburt eines neuen Ideals. Aber das tut sich schwer, dieses neue Ideal , weil der Hedonismus psychologisch betrachtet eine sehr starke Kraft ist. Die Gegenbewegung ist immer geprägt von der Aufforderung zur Mäßigung, aber Mäßigung ist kein attraktives psychologisches Programm, auch wenn unser Verstand sagt: Ja, das ist schon sinnvoll. Aber freudvoll ist es eben nicht. Wir erleben das häufig in den Interviews so, dass die Leute sagen: Ja, stimmt schon und ich versuche auch weniger Fleisch zu essen
, aber das stimmt auch nicht unbedingt immer. Oft ist so etwas ein Lippenbekenntnis.
Neben diesem reinen Lustproblem haben wir aber auch noch ein Problem, das darin besteht, dass eine kulturelle Identität häufig gekoppelt ist mit bestimmten Ernährungsgewohnheiten. Also: Viele sehen diesen Hedonismus eben auch als Errungenschaft an. Dann heißt es: Die wollen uns unseren Diesel und unsere Wurst wegnehmen, das lassen wir nicht zu. Und die Aufforderung, den Fleischkonsum zu reduzieren, wird von der Gruppe mit diesem kulturellen Identitätshintergrund als Einschränkung und als Bevormundung erlebt. Und last but not least, das dritte Hindernis besteht darin, dass wir alle möglichen Ernährungspäpste haben, die nicht alle unbedingt immer dasselbe sagen und sich auch manchmal in dem, was sie sagen, verändern. Selbst die Deutsche Gesellschaft für Ernährung passt ja ihre Empfehlungen an die neuesten wissenschaftlichen Erkenntnisse an, wenn man es positiv formulieren will. Aber aus Sicht der Leute gibt es ein vielstimmiges Gewirr von Dingen, was man eigentlich jetzt machen sollte. Und die sagen: Ja, das kann man gar nicht alles hinkriegen.
Frage: Wir sind also beim Thema Ernährung genauso im Dauerstress wie bei allen anderen Themen unseres Lebens.
Lönneker: Ja, weil wir es im Grunde nicht richtig machen können. Und das steht jetzt im Gegensatz zu dem ersten Narrativ, bei dem alles gruppenorientiert war. Das haben eben alle so gemacht und es war eine Entlastung, weil es alle gemacht haben. Heute ist die Ernährung individualisiert, das heißt: Ich bin selber schuld. Ich werde auf mich selbst zurückgeworfen. Es gibt diese ganzen Empfehlungen, die ich am Ende nicht einhalten kann, also laufe ich mit einem permanenten Schuldgefühl herum, dass ich irgendwas gemacht habe, oder gegessen oder getrunken habe, was ich eigentlich nicht hätte tun sollen. Und das macht natürlich auch Stress.
Frage: Sie beschreiben das als Mind-Delight-Dilemma
.
Lönneker: Eigentlich ist das schon eine Form der Lösung, denn in diesem Mindset haben die Menschen ein Gefühl dafür entwickelt, was sie eigentlich machen sollten. Im konkreten Verhalten sieht das dann aber oft anders aus und das wissen sie auch. Hier im Westen haben wir eine geschickte Strategie entwickelt, um durch dieses Gewirr hindurch zu kommen: Wir sagen, ich bin Flexitarier. Denn als Flexitarier können sie nichts falsch machen. Sie sind sowohl bei den konservativen Fleischessern hochwillkommen, die sagen: Ja, der isst ja wenigstens noch Fleisch. Und wenn sie im veganen/vegetarischen Umfeld sind, dann heißt es: Ja, Sie bist auf dem richtigen Weg. Und Sie selber können sich immer so darstellen, als ob Sie die neuesten Entwicklungen versuchen mit zu berücksichtigen.
Frage: Ist die Bewegung weg aus den militanten Ernährungspositionen auch ein Weg heraus aus der gesellschaftlichen Spaltung? Nimmt man beim Essen vorweg, was sonst passiert? Also – besteht die Chance, dass wir auch im Denken irgendwann (wieder) Flexitarier werden?
Lönneker: Wir haben tatsächlich ja insgesamt in der Gesellschaft eine Bewegung angesichts der vielen Krisen und Verrückungen und Zusammenbrüche und Veränderungen, die versucht, immer wieder im Rekurs auf die guten alten Zeiten Ordnung und Standfestigkeit zu realisieren. Wenn es konkrete Produkte gibt, die man mit dieser Idee anbietet, dann darf man nicht vergessen, dass da nicht die reine Nostalgie in der Vergangenheit gesucht wird, sondern dass man das, was damals gut gelungen ist, in einem modernen Gewand versucht wiederzufinden. Also nehmen Sie zum Beispiel den Fiat 500. Daran haben wir nostalgische Erinnerungen aus unserer Jugend, aber der neue Fiat 500 ist eben nicht mehr der alte Fiat 500, er ist angepasst und bringt Dingen mit, die man heute von einem Auto erwartet.
Die Leute sehnen sich also nach etwas, was früher gut funktioniert hat und die Studie bestätigt auch eine tiefe Sehnsucht nach Gemeinschaft. Da wurde das Alte scheinbar ein Stück weit wieder aufgegriffen. Aber das täuscht. Gemeinschaft soll jetzt nicht dauerhaft etwas sein, was uns praktisch den Alltag rhythmisiert und jeden Tag gestaltet, sondern man möchte ab und an diese Gemeinschaft mit der Familie oder den Freunden erleben und feiert es dann ab, wenn das gelingt. Aber die meiste Zeit sind wir schon weiterhin Individualwesen. Das ist ein Teil der Kehrseite des Hedonismus und der Vielfalt, wo man erlebt, dass die Welt kälter geworden ist. Wir haben weniger sozialen Background und sind alleine verantwortlich dafür und wir können das nicht auf die Gruppe oder die Gesellschaft schieben, sondern wir sind Teil dieser Entwicklung und gestalten sie genauso mit, wie wir sie vorfinden.
Frage: Sie haben ein neues Ideal gefunden, dem wir folgen.
Lönneker: Die neuen gesellschaftlichen Modethemen Achtsamkeit, Gesundheit, Longevity kreieren ein neues Ideal. Dahinter allerdings steckt ein uraltes Motiv der Menschheit, nämlich unsterblich sein zu wollen. Ein Problem des Hedonismus-Ideals besteht darin, dass man darin so schön schwelgen kann, deswegen möchte man es nicht aufgeben. Aber das Unsterblichkeitversprechen ist unter Umständen eine Nummer stärker und dafür würde es sich vielleicht tatsächlich lohnen, ein Stück weit Mäßigung in Kauf zu nehmen. Und genau das passiert. Wir finden besonders bei jungen Menschen diejenigen, die sagen: Ich möchte nicht schnell altern. Oder noch etwas offensiver: Ich möchte gar nicht altern. Und es gibt sogar die Gruppe die sagt: Ich will rückwärts altern. Also: Ich will jünger werden. Das ist tatsächlich inzwischen ein normaler Sprachgebrauch.
Frage: Wenn Sie über Unsterblichkeit sprechen, klingt das für mich nach einem ganz neuen Mindset.
Lönneker: Ja, es gibt beispielsweise den Bestseller How not to die
, wo alle möglichen wissenschaftlichen Studien zusammengetragen worden sind. Und es gibt es ein sehr erfolgreiches TV-Format, das Blue Zones in dem Mittelpunkt stellt. Blue Zones, das sind Gegenden auf der ganzen Welt, wo Leute besonders alt werden. Da ist man hingefahren und hat gefragt: Wie machen die das? Und dann gibt es, das ist vielleicht die extremste Form, den amerikanischen Tech-Millionär Brian Johnson, der sein gesamtes Vermögen in das Projekt gesteckt hat, sich selbst zum Experiment der Unsterblichkeit zu machen. Das ist in einem Film bei Netflix dokumentiert und er hat zumindest in den USA sehr viele Follower. In dem Film wird dokumentiert, was er macht und wie das wissenschaftlich begleitet wird: Er nimmt Nahrungsergänzungsmittel, steht morgens um fünf auf, macht bestimmte Sachen, damit seine Haare nicht ausfallen, lässt sich gentherapeutisch behandeln und so weiter. Es wird die ganze Zeit gemessen, wie sich seine körperlichen Parameter verändern und das wird dann als Benchmark genommen. Wenn es ihm tatsächlich gelingt, diese körperlichen Parameter zu verbessern, also auf einen Stand zu bringen, wie sie bei Menschen der Fall sind, die jünger sind als er selbst, dann wird das der Schlüssel sein: Ist es ihm tatsächlich gelungen, ein Stück weit dieses Programm Ich möchte jünger werden
erfolgreich zu beschreiben? Dann ist das die neue Maxime. Er sagt das in diesen Netflix-Film auch am Anfang: Warum akzeptieren wir, dass wir sterben müssen? Das müssen wir nicht.
Frage: Das ist so ziemlich das andere Extrem vom Hedonisten, der sich keine Gedanken darüber macht, wie gesund das ist, was er auf dem Teller hat.
Lönneker: Wenn wir normale Konsumenten in jungen Zielgruppenbereich betrachten, stellen wir fest, dass sie eine gewisse Affinität haben, im Verlauf der Woche eine sehr disziplinierte Lebensweise zu entwickeln. Es gibt immer mehr Menschen, die regelmäßig Sport treiben, die Shakes und Nahrungsergänzungsmittel zu sich nehmen, die sehr genau gucken, was sie da eigentlich mit ihrem Körper machen und die – das zeigt sich auch wirtschaftlich – zum Leidwesen der Gastronomie auch nicht mehr so viel Alkohol trinken wie die Hedonisten früher. Die gehen auch nicht mehr aus so oft aus. Sie haben ihre cheat days, an diesen Tagen kommen die Hedonismus-Ideale dann wieder zum Vorschein, weil das kein normaler Mensch auf die Dauer aushält. Sie haben auch cheat mornings beispielsweise oder cheat situations. Da wird oft mal ein Eistee oder ein Softdrink irgendwie dazwischen gemogelt in der Woche. Aber grundsätzlich ist ein großer Teil dieses Lebensstils schon in Richtung des neuen Unsterblichkeitsnarrativs unterwegs.
Frage: Ist das nicht vollkommen paradox? Eigentlich lebt die junge Generation doch in einer planetaren Situation, wo wir dabei sind unser Lebensumfeld zerstören, und gleichzeitig entwickeln wir ein Unsterblichkeitsideal.
Lönneker: Ja, also das ist absolut ein Punkt gebracht. Es ist aber vielleicht so, dass in diesem Paradoxen ein wahrer Kern liegt, als dass wir doch einige Hinweise darauf haben, dass viele Menschen nicht mehr wirklich daran glauben, dass es uns gelingt, in kollektiven Anstrengungen den Klimawandel in den Griff zu bekommen und daraus ein Reflex entsteht, dass man sich selber aufrüstet und behandelt und schaut, dass man dann vielleicht so gut in Shape ist, dass man allen möglichen Herausforderungen gegenüber besser gewappnet ist.
Das dritte Narrativ zeigt uns: Andere Dinge sind plötzlich spannend. Wir haben Angebotsformen von Produkten, die wir eigentlich bislang eher aus dem Apothekenbereich kennen, also Dragees, kleine Dosierungen und so etwas, die en vogue sind und die in das neue Lebenskonzept hineinpassen. Das war vorher in dem Umfeld, wo die Orientierung auf natürliche Stoffe ausgerichtet war, nicht vorstellbar, aber das ist heute nicht mehr der alleinige Code. Präsentationsformen, die eine gewisse Reinheit haben, Purismus entwickeln und weniger eine mystische Vielfalt, sind viel attraktiver. Damit sind wir plötzlich in einer ganz anderen Welt mit ganz anderen Codes im Background.
Frage: Gibt es etwas, was Sie im Rahmen dieser Studie erfahren haben, was Sie richtig überrascht hat?
Lönneker: Ich bin als Psychologe natürlich auch immer interessiert daran, seelischen Entwicklungen zu betrachten und wie die Psyche bei der Bewältigung des Alltags unterwegs ist. Und ich habe bei dieser Studie immer wieder gestaunt über die Wandlungsfähigkeit, die wir als Menschen entwickeln. Wie selbstverständlich das, was vielleicht vor zehn Jahren ein No go gewesen ist, jetzt plötzlich voll akzeptiert wird. Nehmen wir nur das Beispiel In-vitro-Fleisch. Wir sind als Menschen sehr wandelbar in unseren Auffassungen und können das in die jeweiligen Kontexte einbringen. Das ergibt aber immer auch einen gewissen Sinn. Wenn die Kehrseiten bestimmter Narrative aufgegriffen werden, ist das immer ein Ausgangspunkt für die Entwicklung von etwas Neuem. Wenn wir etwas grundsätzlich neu machen, dann bedeutet das, dass wir das, was wir bislang gemacht haben neu bewerten und vielleicht zu ganz anderen Einsichten kommen.